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Auf Kunst-Spuren: Ausstellung von Rebecca Horn im Lehmbruck-Museum

Statt schreiben – Stadtschreiberin lockt zur Kunst   Sie sucht ständig die Nähe der Menschen, deshalb entsteht bei Gila Lustiger (54) nicht die Spur von Unbehagen, als sie gleich von einer Hundertschaft Besuchern in die Enge getrieben wird. Die sind gekommen, um sich von der preisgekrönten Autorin („Die Schuld der anderen“) bei der Führung durchs Museum Lehmbruck ein Stück hinein in die Welt von Aktionskünstlerin und Bildhauerin Rebecca Horn (73) begleiten zu lassen.   „Ich verstehe mich als Vermittlerin von Kunst“, beschreibt Lustiger die Motive ihres Sonntagsausflugs. Sie lebt und arbeitet seit 2017 als erste Stadtschreiberin im Ruhrgebiet. Auf Einladung der Brost-Stiftung erkundet sie ein Jahr lang Menschen und Kultur der Region. „Mir geht es dabei nicht um die Fortschreibung von Mythen und Legenden“, so Lustiger. „Ich suche die direkte Begegnung mit den Menschen, quer durch alle Gesellschaftsschichten. Ihre ganz persönlichen Schicksale beschreiben wahrhaftig den Strukturwandel im Ruhrgebiet.“   Statt schreiben steht diesmal anregende Moderation im Vordergrund. „Ich möchte dazu beitragen, dass mehr Menschen mit Kunst und Kultur in Berührung kommen.“   Der berühmte Name hat erwartungsgemäß einen Rekordbesuch ausgelöst, Lustigers sehr persönlicher Zugang zu ausgewählten Werken von Horn macht den Rundgang zum Erlebnis. „Ich will von meiner Begeisterung, meinen Zweifeln, ja auch Ängsten beim Betrachten der Werke Rebecca Horns erzählen“, beginnt die Autorin. „Aber ich will auch nicht zu viel reden, sondern sie ermutigen, sich auf die Werke einzulassen.“   Lustiger kennt die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Künstlerin persönlich, beide leben in Paris in einer „kleinen deutschen Kolonie“. Die erste Begegnung mit Horns Werk rührte sie tief in der Seele. „Mein Vater wurde aus dem KZ Buchenwald befreit. Rebecca Horn hat versucht, das ganze Grauen dieses Ortes in eine Installation zu fassen. Entstanden ist ein Aschehaufen hinter Glas, bei dessen Betrachtung es jeden Menschen schaudern lässt.“   Das Museum Lehmbruck stellt die so genannten „Hauchkörper“ in den Mittelpunkt der Ausstellung, entstanden ein Jahr nach einem Schlaganfall Horns. Sie bestehen im wesentlichen aus stählernen Stäben, die sich scheinbar zufällig, in Wahrheit präzise über Motoren und Gelenkwellen gesteuert, bewegen. Bei manchen Betrachtern lösen sie meditative Entspannungsgefühle aus, andere beschreiben eine Energie, die sich vom Kunstwerk auf den Besucher zu übertragen scheint.   Für Gila Lustiger manifestiert sich nicht nur hier eine Grundfrage der Kunst, übergreifend auf alle Gattungen: „Ist mit der Arbeit des Künstlers ein Werk vollendet, ist schon alles drin? Oder wird es erst durch die Interaktion mit dem Betrachter zur Kunst?“   Beispiel „Amore Continental“ (2008), eine Apparatur, die sich angesichts des Alters der Besucher den meisten noch als Schreibmaschine erschließt. An dünnen Drähten zittern Buchstaben, zusammen ergeben sie das Wort „Amore“. Liebe, eine bekanntermaßen unstete und fragile Geschichte. „Wer von Ihnen war schon einmal unglücklich verliebt?“ fragt Lustiger in die überrumpelte Gruppe. Zaghafte Fingerzeige, die Anteilnahme greift die Schriftstellerin zum Deutungsversuch des Kunstwerks auf: „Auf mich wirkt es wie ein Hilfeschrei einer unglücklich Verliebten. Sie scheint „liebe mich, liebe mich, liebe mich“ in die Tasten zu hämmern.“   Nach einer guten Stunde zieht sich Lustiger bewusst zurück, lässt die Besucher mit Rebecca Horns Werken allein. Ein älterer Herr nutzt freilich die Nähe zum schreibenden Weltstar aus. Er fischt ein Buch aus der Tasche, mit der Bitte um Signatur. Der die Stadtschreiberin lächelnd nachkommt – zum Schreiben ist sie schließlich hergekommen.