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Weiße Rosen

Weiße Rosen In der Reihe „Helden des Alltags“ Von Gila Lustiger Die weißen Rosen stehen schon in zwei schwarzen Eimern. Sie wurden von der Geschäftsstelle der Ärztekammer gekauft, wie jedes Jahr. Die apfelgrünen Abschlusszeugnisse ruhen in gelben Kisten, da wo vier Treppen vom Festsaal des Essener Robert-Schmidt-Berufskollegs auf die Bühne führen. Gleich beginnt es, aber noch lange haben nicht alle Platz genommen. Die Ungehorsamen plaudern neben den Sitzreihen. Eltern und Lehrer sind darunter, viele Schülerinnen. Sie sind hübsch gekleidet, dezent geschminkt, stehen in Grüppchen beieinander, tuscheln und lachen. Man merkt ihnen die Vertrautheit an, die entsteht, wenn man drei Jahre lang gemeinsam die Schulbank drückt. Ich bin zur Lossprechung gekommen. Im Mittelalter sprach der Meister den Gesellen tatsächlich mit einer Freisageformel los. Heute wird zum feierlichen Abschluss der Ausbildungszeit ans Buffet geladen. Ich setze mich zwischen zukünftige medizinische Fachangestellte und ihre Eltern und blicke um mich. Viele junge Frauen sind darunter. Das ist nicht weiter verwunderlich. Ich notiere alle Schattierungen von blond: asch-, sand-, platin-, erdbeerblond, mit Rotstich, Karamell, Toffee ... Die männlichen Absolventen scheinen wie kleine Muttermale. Man erkennt Familien an ihrer Art sich zu kleiden, zu sitzen, ja, selbst an ihrer Art, die anderen zu beäugen. Es gibt Familien, die kritisch mustern, die wie kleine Monaden unter sich bleiben. Einige lächeln ganz einfach in den Raum. Es ist schwül an diesem Mittwoch kurz vor den großen Sommerferien. Doch der Himmel ist verhangen und grau. Die Wettervorhersage hat Regen versprochen. Das Klima im Ruhrgebiet wird als gemäßigt klassifiziert. Aber regnen tut es halt etwas häufiger als anderswo. Ganz besonders im Sommer. Gleich wird den Absolventen das Prüfungszeugnis ausgehändigt. Mütter und Väter werden mit ihren Smartphones aufspringen, um Fotos von den Kindern zu machen. Wie sie unter Applaus die vier Stufen zur Bühne hinaufgehen, Hände schütteln, lächeln, eine weiße Rose, Ratschläge und das Zeugnis in Empfang nehmen. „Haste sie?“, wird eine Mutter ängstlich fragen. „Nur Profil“, wird ihr Mann mit einer ziemlich professionell aussehenden Videokamera zerknirscht gestehen. Endlich beginnt die Zeremonie. „Sie sind die Visitenkarte, der erste Kontakt zum Patienten”, sagt der erste Redner. Ich stelle mir die jungen Menschen, die den grauen Tag mit ihrer Lebensfreude erhellen, im hellblauen Kasack und in Schlupfhose vor. Sehe sie mich nach meinem Namen und meiner Gesundheitskarte fragen, Blut abnehmen... „Sie haben einen Beruf gewählt, der immer gebraucht werden wird“, schließt er seine Rede. „Es wird immer kranke Menschen geben. Die Bevölkerung wird älter und kränker.” Na prima, denke ich, das sind freudige Zukunftsperspektiven. Dann fällt mir die Arbeitslosenquote im Ruhrgebiet ein: 14 % in Duisburg, 13 % in Gelsenkirchen, 12 % in Essen ... In einer Region, in der Menschen seit Jahrzehnten um ihren Arbeitsplatz kämpfen, ist so eine Information von Gewicht. Ich frage mich, ob man in Bayern Jugendliche mit den gleichen Ängsten in die Arbeitswelt entlässt. Sehr wahrscheinlich nicht. Die Bayern schlagen sich, glaubt man Seehofer, derzeit mit anderen Ängsten herum. „Sorgen Sie dafür, dass Sie ein anständiges Gehalt erhalten und eine anständige Rente beziehen”, warnt die zweite Rednerin in den Saal. „Es bleibt am Ende nicht viel.“ Das Einstiegsgehalt liegt im Schnitt bei monatlichen 1885 Euro brutto. Nach den 800 und ein paar, die man als Azubi erhalten hat, kommt man sich da leicht wie Krösus vor. Ich erinnre mich an meinen ersten Vorschuss und wie ich ihn mit dem Vater meiner Kinder in Italien verprasst habe. Auch der dritte Redner ist vorsichtig: „Sie haben einen Beruf gewählt, der sich nicht wegdigitalisieren lässt“, prophezeit er. In einer Region, die von der Montanindustrie, dem Fahrzeug- und Maschinenbau gelebt hat, ist „Digitalisierung“ ein Wort, das Angstschweiß auf Stirne treibt. Die Visionen, die ihn schrecken, kennt jeder: Menschen, die durch Roboter ersetzt werden. Berufszweige, die verschwinden. Im angelsächsischen Kulturraum sagt man zu Digitalisierung Innovation. Vom lateinischen Verb „innovare“ abgeleitet bedeutet es wortwörtlich Erneuerung. Und jetzt stellen Sie sich bitte einmal einen Redner vor, der junge Menschen damit vertröstet, dass sie sich nicht erneuern werden. Ich schaue mir die zukünftigen Arzthelfer an, die mit Smartphone, WhatsApp, YouTube & Co. aufgewachsen sind. Angst vor der digitalen Welt scheinen sie nicht zu haben. Vielmehr klimpern sie fröhlich auf ihren Smartphones herum. Was sie mit dem Dokument machen werden, frage ich mich später beim Buffet durch. „Abheften”, lautet die Antwort der meisten. Und dann rein in den Ordner zu den Schulzeugnissen der Kindheit. Ich kriege ein paar Lebensbrocken geschenkt. Lisas gesamte Familie arbeitet im Gesundheitsbereich. Nun auch sie, 40 Stunden lang, daneben lernt sie in der Fernakademie Psychologie. Vivien und Sabrina macht ihre Arbeit Spaß. Was ihnen Spaß machen würde? Helfen, lautet die schlichte Antwort. Auch Svenja, die bei einem Kinderarzt ist, kümmert sich gerne um ihre kleinen Patienten. Freund? Ja. Hobbys? Fußball, Mittelfeld. Jacqueline ist beim Schmerztherapeuten und in der Palliativmedizin. Ist das nicht schwer? Sie ginge mit einem Lächeln zur Arbeit. Was sind das nur für Menschen, denke ich, die ihre Zeit und ihr Interesse in andere Menschen investieren. Und dazu noch hübsch. Aufgeschlossen. Und jung. Nun haben sie also die Prüfung bestanden. Es ist Sommer. An der Gruga war gerade Sommerfest mit Geister-Villa und Autoscooter: Die Welt gehört ihnen.