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Sehen mit den Ohren

Das Projekt Hör.Oper am Musiktheater im Revier versucht, durch Audiodeskription auch Bühnenbilder für blinde und sehbehinderte Menschen erlebbar zu machen

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„Hinter dem Folienvorhang erscheint rechts oben ein dunkelhaariger Mann in einem ärmellosen Schwimmanzug, angestrahlt durch einen Lichtspot. Er ist kopfüber an einem Seil festgebunden und gleitet mit schwimmenden Bewegungen senkrecht nach unten...“

[caption id="attachment_4838" align="alignright" width="371"] Über 30 solcher Empfangsgeräte bietet das MiR Menschen mit Sehbehinderung die Audiodeskription an[/caption]

Entsteht beim Lesen dieser Zeilen ein Bild in Ihrem Kopf? Dann hat Silvie Ebelt bei der Komposition des Textes einen guten Job gemacht. Sie gehört zum Team der Hör.Oper des Musiktheaters im Revier (MIR), das versucht, für blinde und schwer sehbehinderte Menschen neben der Musik auch das Bühnengeschehen mittels Audiodeskription erlebbar zu machen. Während sie mit einem Ohr der Opernmelodie folgen, beschreiben Ebelt und die anderen „Deskriptoren“ aus einer Sprecherkabine per Funkanlage, was gerade auf der Bühne passiert. Zum Beispiel in Bizets Oper „Die Perlenfischer“, inszeniert von Manuel Schmitt.

„Durch die Folie sind die Umrisse des Mannes etwas verschwommen; kurz bevor er den Boden erreicht, erlischt der Spot, der Mann ist nicht mehr zu sehen...“
Auf 30 Plätze kann die begleitende Beschreibung via Funkgerät und Kopfhörer übertragen werden. „Wir wollen Sehbehinderten und blinden Menschen genau das Theatererlebnis geben wie Sehenden“, sagt Stephan Steinmetz, Dramaturg am Musiktheater im Revier. Für Theaterbegeisterte mit Handicap bietet das MiR seit der Spielzeit 2009/10 ausgewählte Produktionen mit Audiodeskription an.

[caption id="attachment_4839" align="alignleft" width="399"] Das Audio-Team bei der Vorbesprechung: Sabine Rosenbaum (links), Norbert Raestrup, Silvie Ebelt (rechts von hinten) und Diana Merten[/caption]

Die besondere Herausforderung liegt neben der präzisen Beschreibung im Bemühen, den Musikgenuss der Zuschauer möglichst wenig zu stören. Dies gelingt in einem Team aus sehenden und gehandicapten Menschen. Norbert Raestrup (69) zum Beispiel ist von Beginn an dabei. Seit der Geburt litt er an einer Sehschwäche, verlor vor fünf Jahren komplett das Augenlicht.

„Zunächst überlegen wir, wer welche Akte beschreibt. Bei den Generalproben und durch DVDs der Produktion schildern die Sehenden, was sichtbar ist und schreiben das nieder“, erklärt Raestrup. „Im Anschluss wird dann jeder Akt mit uns Nichtsehenden besprochen. Dabei gucken wir, ob alles verständlich ist, man etwas ergänzen muss oder Worte fürs bessere Verständnis ausgetauscht werden müssen.“ Die Blinden sagen den Moderatoren, welche Bilder sie bei der Beschreibung „sehen“!

„Im Schein des Lichts taucht schemenhaft ein Förderturm auf, auf dem Menschen erkennbar sind. Er bewegt sich langsam über die Bühne, dreht sich um sich selbst und kommt schließlich mittig zum Stehen...“
In der Regel wird das beschrieben, was auf der Bühne sichtbar ist – sei es das Bühnenbild oder die Handlungen der Darsteller. „Die Kunst dabei ist, die Essenz zu beschreiben, damit das Geschehen auf der Bühne für Blinde verständlich wird“, sagt Steinmetz.

[caption id="attachment_4840" align="alignright" width="417"] Opern-Gefühl für Blinde: Norbert Raestrup beim Abtasten der Kostüme vor der Aufführung[/caption]

Um die sehbehinderten Menschen in ihrer Vorstellungskraft zu unterstützen, werden zwei Stunden vor der Vorstellung in einer einstündigen „Sinnesreise“ Kostüme, Perücken, Requisiten und auch das Bühnenbild aus nächster Nähe präsentiert und beschrieben. Der Bühnenraum wird in seiner Dimension und seinen Materialien erfahrbar, Anfassen ausdrücklich erlaubt.

„Jeder bereitet sich zuvor individuell auf die Handlung der Oper vor. Ich sehe zu, dass ich einen Reclam-Opernführer mit Blindenschrift bekomme“, sagt Raestrup. Auf Wunsch gibt es auch ein Programmheft in Brailleschrift. Für Audiodeskription, das Audio-Gerät und das Vorprogramm entstehen keine Extrakosten. Begleitpersonen von Schwerbehinderten zahlen eine Gebühr von drei Euro.

Möglich wird diese beispielhafte Initiative auch durch Förderung der Brost-Stiftung. „Die Hör.Oper im MiR Gelsenkirchen ist für die Brost-Stiftung ein Leuchtturmprojekt“, sagt Professor Wolfgang Heit, Vorsitzender der Stiftung. „Die Integration gesellschaftlicher Randgruppen in das kulturelle Leben unserer Region ist eigentlich Pflicht Aller, bedarf jedoch immer wiederkehrender Initiativen und Anstrengungen Einzelner, um Bestand zu haben.“

Nach Heits Einschätzung ist die Hör.Oper „hochattraktiv, künstlerisch hochwertig und wertvoll“. Für das MiR biete sie eine innovative Aufgabenstellung zugunsten neuer Ausdrucksformen und Kommunikationsmöglichkeiten, die das Repertoire des Theaters und die Erlebniswahrnehmung der Zuschauer und Zuhörer gleichermaßen erweitere. Heit: „Dieses Projekt haben wir in der Überzeugung, auf ein wichtiges und zukunftsweisendes Vorhaben gestoßen zu sein, gerne gefördert.“

In jeder Spielzeit stehen vier Opern und Musicals mit insgesamt acht Vorstellungen auf dem Programm der Hör.Oper. Zum Start 2019/20 wird „Frankenstein“ gegeben (01.11./01.12.19), gefolgt von „Orlando Paladino“ (02.02./29.02.20) sowie „Jesus Christ Superstar“ (11.01./12.04.20), „Madame Butterfly“ (17.05./11.06.) und „Macht des Schicksals“ (21.03./05.04.20).

2019 entstand mit Unterstützung der Brost-Stiftung ein eindrucksvoller Dokumentarfilm zum Projekt:

Fotos © Musiktheater im Revier / Pedro Malinowski, James Chan-A-Sue, Standbilder Dokumentarfilm