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Menschen des Reviers, ein Revier für Menschen

Till Brönner überrascht zur Eröffnung seiner Ausstellung „Melting Pott“ mit eindringlichen Momentaufnahmen aus dem Ruhrgebiets-Alltag

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Die ersten beiden Fotos im hinteren Gang von Raum 1 erinnern an einen modernen Drachentöter, der in silberner Rüstung dem Feuer trotzt...

Hinter Gießermantel und hitzegeschütztem Helm wirkt der Stahlkocher von ThyssenKrupp unbesiegbar im Kampf gegen das ringsum lodernde Feuer. Dann klappt er auf dem dritten Foto in der Reihe den futuristischen Gesichtsschild hoch, das Szenario bekommt menschliche Züge. Die Till Brönner (48) auf dem letzten Bild des Quartetts heranzoomt: Der schnauzbärtige „Held“ wirkt von Anstrengung gezeichnet, sein Blick eher zweifelnd und unsicher als von Zuversicht und Optimismus geprägt. Wer das 1,50 mal 1,00 Meter große Porträt lange genug auf sich wirken lässt, könnte darin die Zukunftssorgen einer ganzen Berufsgruppe im unsicheren industriellen Wandel entdecken.

Es sind diese Momente, die der Ausstellung „Melting Pott“ im Museum Küppersmühle den besonderen Reiz verleihen. Rund 200 Fotos hängen an der Wand, von über 1000, die Brönner im vergangenen Jahr auf seinen Streifzügen durch das Ruhrgebiet geschossen hat. Kuratorin Eva Müller-Remmert hat sie über 1000 Quadratmeter auf acht Räume verteilt, ab dem 3. Juli sind sie bis zum 6. Oktober in Duisburg zu sehen.

„Till Brönner machte sich ein Bild des Reviers – für uns“, würdigt Bodo Hombach, Vorstand der Brost-Stiftung, die Arbeit des weltberühmten Jazztrompeters und Fotografen bei der Vernissage. „Kein weiterer intentionaler Journalismus. Er konstruierte nicht, was wir zu sehen und zu denken haben. Das realistische Bild unserer Welt bleibt Eigenleistung und in Eigenverantwortung. Wir fühlen uns freundlich beobachtet, ehrlich erkannt und schnörkellos beschenkt.“

Bis vor fünf Wochen war Brönner mit der Leica-Kamera (M8) unterwegs, bis zuletzt wurde um jedes Foto in der Ausstellung gerungen. Sie bildet jetzt den Endpunkt eines Projektes, das von der Brost-Stiftung vor rund zwei Jahren auf den Weg gebracht wurde. Den roten Faden bilden Begegnungen mit Menschen des Ruhrgebiets, die prominenteren inszenierte er aufwändig in Farbe, alltägliche Begegnungen fotografiert er am liebsten „aus dem Hinterhalt“. Brönner: „Jeder Mensch verändert sich sofort, wenn man ihn fragt, ob man ihn fotografieren darf.“ Also lief er zum Beispiel an einem Essener Schrebergärtner vermeintlich uninteressiert vorbei, es machte eher beiläufig „klick“. Das entstandene Bild hängt (wie Brönner dem Laubenpieper versprochen hat) in der Ausstellung (Raum 5).

Wie im Katalog versprochen, entwickelt sich die Ausstellung (unter Schirmherrschaft von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet) „entlang der wesentliche Motivgruppen, die nicht als getrennte Bereiche zu verstehen sind, sondern ineinander übergehen: Menschen und Identitäten/Leben und Arbeiten/Strukturwandel: Kohle und Stahl gestern und heute/Architektur und Infrastruktur/Strukturen-Raster-Aggregatzustände/Natur an Rhein und Ruhr/Lebenswege und Schicksale/Engagement und Anteilnahme/Studioporträts bekannter Gesichter.“

Natürlich spielt der Bergbau vom ersten Raum an eine zentrale Rolle. Brönner: „Das Ruhrgebiet hat in seiner Geschichte die unterschiedlichsten Rollen gespielt. Es war Waffenschmiede zweier Weltkriege, Motor des Aufschwungs, dann Sanierungsfall – mich interessiert, was das aus den Menschen macht.“

Ohne Fußball, so erklärt er den zweiten Schwerpunkt seiner Arbeit, sei das Ruhrgebiet nicht zu erzählen. „Das wäre, als würde man Spanien beschreiben, ohne die Sonne zu erwähnen.“

Dass ausgerechnet die Dortmunder Südtribüne auf einer über 40 Quadratmeter großen Fototapete verewigt wurde, konnte der königsblaue Teil der fast 500 Vernissage-Gäste wohl nur hinnehmen, weil gleich nebenan Dutzende Schalke-Impressionen die Herzen bewegten. Und Trompeten-Willy aus Gelsenkirchen Brönner nach Ende des offiziellen Teils als Ständchen noch das „Steigerlied“ spielte...

In der Flut der vorhersehbaren Eindrücke sind Brönner überraschend intensive Eigenansichten gelungen. „Wo wir grau sehen, sieht Till Brönner unzählige Abstufungen“, beschreibt Hombach die Qualität der Momentaufnahmen.

Sie lassen uns schmunzeln, wie das Motiv „Mitglied der Trommlergarde FC Schalke 04“ (Raum 3, rechte Wand). Steht die Trommel vorne im Blickpunkt oder die unter der Trainingsjacke?

Sie lassen uns träumen, wie die Luftaufnahme vom Kemnader See (Raum 7). Die drei Tretboote verlieren sich in einem scheinbar endlosen blauen Ozean.

Sie lassen uns mitfühlen, wie die sensibel fotografierten Bilder kriegsverletzter Kinder (Raum 8) aus dem SOS-Kinderdorf.

Sie lassen uns hoffen, auf erfolgreichen Wandel im Revier. In Raum 5 bilden rauchende Kohlebunker einen optisch überraschenden Gegenschnitt zur modernen Plasmabeschichtungsanlage der Uni Duisburg-Essen. Hier werden nanostrukturierte Kohlenstoffschichten hergestellt, wie sie beispielsweise in neuartigen Batterie- und Brennstoffzellen genutzt werden können. 

Brönner beschreibt die große Bahnhofsuhr von Marl als eines von zwei Lieblingsfotos der aktuellen Ausstellungsstrecke (neben der Idylle am Kemnader See). Sie symbolisiert für ihn neben aller grauen Tristesse die Relativität von Zeit: „Wir möchten gern mit unseren eigenen Augen erleben, wie ein Wandel vonstatten geht. Und verkennen dabei, dass diese Region hunderte Jahre gebraucht hat, um das zu sein, was sie heute nicht mehr ist.“

Er sieht die Bildergalerie nach seinem Anspruch noch keineswegs vollendet. „Die Ausstellung kann offen bleiben und weiter wachsen, ich sehe sie nicht wie einen Film vollendet.“

 „Melting Pott“ ist noch bis zum 6. Oktober 2019 im Museum Küppersmühle zu sehen. Eintritt: 6 Euro. Für Duisburger ist der Eintritt jeden Donnerstag frei. (Personalausweis mitbringen!)

Danach soll die Ausstellung an mehreren Orten in Deutschland und dem benachbarten Ausland gezeigt werden.