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Frau Lustiger sucht das Glück

Mit einem spannenden Projekt beendet die Stadtschreiberin ihren Aufenthalt im Ruhrgebiet Während ihr Bestseller „Die Schuld der Anderen“ gerade mit der 9. Auflage seine Erfolgsgeschichte fortschreibt, geht für Gila Lustiger (55) der Lebensabschnitt „Stadtschreiberin Ruhr“ dem Ende zu. Nach einem Jahr im Revier kehrt die in Deutschland geborene Schriftstellerin zurück in ihre Wahlheimat Frankreich. Für das finale Kapitel hat sich die vielfach ausgezeichnete Autorin jedoch noch ein spannendes Projekt vorgenommen: FRAU LUSTIGER SUCHT DAS GLÜCK! „Ich gehe auf Menschen zu, tippe ihnen auf die Schulter, lächle sie an, dann frage ich sie, wann sie das letzte Mal glücklich waren“, erklärt sie. In den letzten zwei Wochen hat Lustiger so bereits 50 Menschen aus dem Ruhrgebiet nach ihrem bewussten Glücksmoment ausgefragt, auf der Straße, im Schwimmbad, in der Kneipe. Am Ende sollen es 100 werden. WAS IST FÜR DIE „RUHRIS“ GLÜCK? Lustiger: „Oft sind es kleine Momente des Alltags. Ein perfektes Frühstücksei etwa, festes Eiweiß, flüssiges Dotter. Rituale, wie die Rückkehr eines Taxifahrers von der Nachschicht, in Vorfreude auf den Hund, der ihn im Flur erwartet. Natürlich die Geburt des ersten Kindes. Aber auch Freundschaften, wie in einem Kegelklub von Grundschulfreundinnen – Einschulung 1946!“ Zu jeder Glücksgeschichte hat sie ein oder mehrere Fotos der Befragten gemacht. Und sie mit feinsinnigen Kommentaren begleitet. Lustiger traf aber auch Menschen in schwierigen Lebensphasen. „Ich habe eine Frau im Jobcenter Essen nach ihrem Glückmoment gefragt. Sie erklärte mir, dass die Angst, ihre Wohnung zu verlieren, sie derzeit so zermürbe, dass sie nicht mehr in der Lage sei, etwas anderes wahrzunehmen als ihre Ängste. Zum Glück, selbst in kleinster Dosierung, gehört mindestens ein erträgliches Auskommen sowie Wertschätzung durch die Mitmenschen.“ Die Frau aus dem Jobcenter soll aber ebenso in der 100-Serie bleiben wie Begegnungen in Spielhalle oder Kleiderkammer. „Die Suche nach dem Glück verbindet uns. Wie wir uns ein gutes Leben vorstellen, das bestimmt aber auch unser Alter, unser Geschlecht, unsere Erziehung, unsere Wertvorstellung und unsere Lebensumstände.“ Mit dem Projekt will sie eine vertragliche Verpflichtung als Stadtschreiberin einlösen, „das Ruhrgebiet in all seinen Facetten“ künstlerisch abzubilden. Lustiger: „In all seinen Facetten heißt für mich mit all seinen Menschen.“ Während des für ein Jahr von der Brost-Stiftung finanzierten Aufenthaltes in Mülheim hat sie auch für einen Roman recherchiert, der später erscheinen soll. Welche nachhaltigen Eindrücke nimmt sie aus dem Ruhrgebiet mit? „Ich bin heute in vielen meiner Gewissheiten erschüttert. Die Situation der Menschen ist oftmals so komplex, dass ich bei der Suche nach Lösungen gescheitert bin. Aber diese Ambivalenzen muss man aushalten können.“ Aber einige „Gewissheiten“ bleiben: „Strukturwandel ist mein persönliches Unwort des Jahres. Und am meisten bestürzt bin ich über die Verkitschung der früheren Arbeitswelt, vor allem des Bergbaus.“ In Kopf und Herz bleiben ihr die Menschen des Ruhrgebiets, viele von ihnen bezeichnet Gila Lustiger als „Helden des Alltags“. Warum? „Ich war in Stadtvierteln mit fast 50 Prozent Arbeitslosigkeit, in denen ein Großteil der Einwohner von Hartz IV lebt. Es würde alles zusammenbrechen ohne die Solidarität der Menschen und ihre Bereitschaft , sich für andere einzusetzen.“ Im September, wenn sie eine Hundertschaft von Ruhrgebietsbewohnern zu ihren Glücksmomenten ausgefragt hat, will sie zurück nach Paris, zur Familie, die sie sehr vermisst. Ihr Nachfolger im auf fünf Jahre angelegten Stadtschreiber-Projekt wird am 10. September auf dem Stiftungstag der Brost-Stiftung vorgestellt. Für ihn oder sie sicher ein echter Moment des Glücks...